Martina saß in Friedrichshagen in einer dieser Dönerbuden, in denen rund um die Uhr ein paar Männer zwischen 40 und 60 sind und tun, was sie immer tun: Saufen.
Sie saß draußen unter der Markise, aß Salat mit Schafskäse und trank einen löslichen Kaffee. Der Salat war ok, der Kaffee eklig aber nun war er eben da. Sie konnte sich an der warmen Tasse festhalten und die Leute im Regenguss auf dem Bürgersteig beobachten. Die Alkis neben ihr lallten herum und hielten andere, die auch auf einen Kaffee vor dem Regenguss geflüchtet wären davon ab, es ihr gleichzutun. Martina war das egal. Freundlich aber abweisend hatte sie gleich am Anfang klargestellt, dass sie in Ruhe gelassen werden wollte. Das funktionierte. So konnte sie ganz gelassen zuschauen, wie der Imbissbesitzer einen der Alkis nach Hause schickte und dieser sich nach ein paar Artikulationsversuchen auch schwankend in Bewegung setzte – nicht ohne den rechten Arm zu heben, was ihn beinahe vollends aus dem Gleichgewicht brachte. Martina musste an Freital denken, wo sie geboren und zur Schule gegangen war. Sie ging ihre Mitschüler durch und fragte sich, wer jetzt von ihnen wohl vor dem Heim stehen würde um den Flüchtlingen das Leben zur Hölle zu machen. Rico? Marcel? Kai? Hoffentlich nicht Kai! Mit dem hatte sie Badminton gespielt. Ihn hatte sie in der Schülderdisco zum ersten Mal geküsst. Aus den Boxen kam damals Nirvana – sie konnte es jetzt noch hören. Sie schloss kurz die Augen und hörte den Regen auf die Markise pladdern.
Nach all dem Stress war sie jetzt endlich wieder zurück in Berlin und dringend erholungsbedürftig. Der Wetterbericht hatte berichtet, daß es der letzte warme Tag werden würde. Also rauf aufs Fahrrad und ab zum See – zu diesem Kleinen, etwas Versteckten, wo alles noch war wie immer. Wo Nacktbaden das Normalste von der Welt war und niemand außer zwei Pubertierenden einen Gedanken an Bademoden verschwendete. Schön wars. Ganz alleine auf dem Fahrrad, im Wasser und nun eben im Imbiss. Das Geplärre der Betrunkenen war nur Hintergrundrauschen, genau wie der Regen. Nach einer Weile schlug sie, da sie sonst nichts zu lesen hatte, ihr Notizbuch auf. Sie hatte Tagebuch geführt auf dieser Sommertour dieses seltsamen Duos, das eine Fotografin dabei haben wollte. Ihr kam das gerade recht. In Berlin fiel ihr die Decke auf den Kopf, ihr neuer Vermieter nervte sie mit tausend komischen Briefen. Geld hatte sie auch keins und das mit den höheren Mächten funktionierte irgendwie nicht mehr. Nicht mal mit Yoga konnte sie sich noch entspannen. Also raus hier! Martina fing an zu lesen:
Poznan: Die Fahrt von Berlin nach Poznan ist überschaubar. Wie nach Dresden und dann noch mal 100 km drauf. Erstmal zu Magda, einer Freundin von Pjotrek, dem Tourorganisator. Piroggi im Plattenbaugebiet bei Magdas Oma, die grade im Urlaub ist. Dann ab ins Rozbrat. Das ist das älteste besetzte Haus Polens. Seit 20 Jahren. Beim Reinfahren gleich erstmal das geliehene Auto zerkratzt. Scheiße! Das Rozbrat ist ein Gelände mit Baracken und Bäumen und einer engen Zufahrtsstraße. Grade findet ein Nachbarschaftsfest einer Mieterinitiative statt. Berlinska Dróha spielt quasi als Bindeglied vor der Aftershowparty. Kaum das Gelände besichtigt, schon kommen um die 50 Roma samt Kindern aufs Fest. Interessant was für Bindungen das Rozbrat hat. Reale soziale Verankerung. Mieter, Roma und die Arbeiterinitiative, in deren Umfeld es grade einen Streik bei Amazon gab – alle treffen sich hier. Wirklich beeindruckend. Das Konzert ist regelrecht zweigeteilt. Die erste Hälfte mit den Roma und ihren begeisterungsfähigen Kindern – in der zweiten Hälfte, als die Kinder langsam ins Bett müssen, mit polnischen Linken. Langsamer zu begeistern aber am Ende wollen sie Zugaben, Zugaben und nochmal Zugaben. Zwischen den irgendwie vom Punk geprägten Leuten steht ein älterer Mann, der sorbisch gelernt hat und wohl zum ersten mal im Rozbrat ist. Für ihn sicher eine interessante Erfahrung. Am Ende noch Disko und lange Gespräche.
Lodz: Eigentlich nicht viel zu sagen. Das Konzert ist schlecht besucht und deshalb unplugged in so einem Hostel, das irgendwie von linksalternativen Leuten gemacht wird. Aber Wowa, ein alter Bekannter aus Weißrussland, ist mit zwei Freunden da. Einer davon orthodoxer Priester in der nahegelegenen russischen Kirche. Aber heute trinkt er Wodka und singt nach dem Konzert mit schöner Stimme spätsowjetische Rockballaden. Am Ende alles ganz nett und ein Hostel hat den Vorteil, daß passable Schlafplätze garantiert sind.
Suwalki: Suwalki liegt ganz im Nordosten Polens auf der russischen Seite der historischen Grenze und kurz vor Litauen. Der Weg ist weit und führt ohne Klimaanlage über die weiten polnischen Landstraßen ohne Autobahnen, die es in Polen in nennenswertem Ausmaß erst seit der Fußball-EM gibt. Seitdem wird schnell gebaut. Aber zwischen Warschau und Suwalki ist alles wie immer. Konzertschuppen scheint es nicht viele zu geben. Das Ganze findet in einer Art Rockerkneipe statt. Ist aber ganz ok. Am Tor werden wir gleich vom Tourorganisator Pjotrek und den Kollegen von Dzieciuki samt Freundinnen mit Samahonka begrüßt. Samahonka ist selbstgemachter Schnaps und so heißt auch die Tour. Ok, muss rein das Zeug. Schmeckt auch gar nicht so schlecht. Konzert ist klein aber nett. Anschließend hat Robert noch die Gelegenheit seinen Film vom letzten Jahr zu zeigen. Dann endlose Autofahrt über Feldwege nach Czarna Buchta – Schwarze Bucht.
Czarna Buchta: Bisschen Offdays am See. Sehr schön. Die Dziecoukis fahren noch mal nach Kaliningrad ans Meer. Wir hängen mit den sympathischen Kiffern von der Reggaeband NO LOGO herum, baden und musizieren abends am Lagerfeuer. Nebenbei werden seltsame Videos gedreht. Zwischendurch mal ein Besuch bei einer NO LOGO – Probe in einem typischen und ziemlich original erhaltenen Ostblock-Kulturhaus. Und wie es in einem Ostblock-Kulturhaus sein muss, ist auch ein etwa 60jahriger Ostblockrocker mit schwarzen Kopftuch da. Er leitet das Ganze.
Warszawa: Der erster Gig mit DZIECOUKI. Das Sklad Butelek ist ein kleiner Keller in Praga, dem Stadteil rechts der Weichsel, von dem im zweiten Weltkrieg neben Trümmern auch ein paar Straßenzüge mit Häusern von der letzten Jahrhundertwende übriggeblieben sind. Von hier aus sah die rote Armee zu, wie die Wehrmacht den Warschauer Aufstand niedermetzelte. Wie das zu beurteilen ist, darüber gibt es leidenschaftliche Dispute unter Historikern. Lange war Praga ein verrufener Bezirk. Heute wird kräftig gentrifiziert. Zwiespältig mit Kultur auch ein wenig Teil dessen zu sein. Aber schöner Laden im Keller und ein cooler alter Techniker mit einem guten Ohr.
Dzieciuki spielen zuerst. Danach kann man die Luft in Scheiben schneiden. Nach kurzer Pause ein stimmungsvolles Konzert. Irgendwie kommt Berlinska Dróha vor weißrussischer Community gut an.
Krakow: Wieder so eine lange Autofahrt in glühender Hitze. Habe das Gefühl langsam zu zerschmelzen. 400 Kilometer über Landstraßen. Irgendwo da, wo es schon bergig ist, steht ein Imbiss, in dem sich hinter Plexiglas einige polnisch Schlagerstars verewigt haben. Nachdem wir gegessen haben, wissen wir warum: Super Essen für kleines Geld. Da muss auch ein Zettel von Berlinska Dróha hin.
Weiter geht es über flimmernden Asphalt. Durch die Krakower Vororte fährt eine altersschwache Straßenbahn und kündigt schon mal die Stadt an. In Krakow stehen überall diese Jahrhundertwendebauten mit den grauen, bröckelnden Fassaden. Erinnert mich ein bisschen an Dresden Anfang der 90er. Ist ja auch nicht so weit weg. Alles KuK hier. Kaiser und Königreich, mit dem Sachsen 1866 gemeinsam den Krieg gegen Preußen verloren hat. Wir fahren durch ein Gewirr von Einbahnstraßen im ehemaligen jüdischen Viertel. Heute ein Hotspot der Gentrifizierung. Ein bisschen wie die Dresdner Neustadt. Das PIENKNE PIES – der Schöne Hund – ist auch so ein Schickieladen. Hinten, wo das Konzert stattfinden wird, sogar klimatisiert. Das Konzert ist von Leuten aus der krakower weißrussischen Community organisiert. Sehr gut organisiert! Zuerst spielt eine krakower Lokalband, dann gibt Pogoparty zu Dzieciouki. Am Ende Berlinska Dróha. Startet mit Popsong. Das komplette Gegenteil. Funktioniert!
Nach dem Konzert fahren wir zu Michal, der eine riesige, von seinen Eltern erworbene Eigentumswohnung in einem Neubau hat, der den Eindruck einer Gatet Community macht, was ihm etwas peinlich ist. Für uns ist das super. So fällt für alle etwa 15 Leute, die wir zusammen mit Dzieciuki sind, ein anständiger Schlafplatz ab. Vorher wird aber gefeiert und unter dem immer stärkeren Einfluss weißrussischer Samahonka gesungen bis die Nachbarn die Polizei rufen. Am nächsten Tag haben alle einen mörderischen Kater. Ich gehe erstmal spazieren. Laufe in die Innenstadt und noch einmal durchs jüdische Viertel. Die Gebäude stehen noch. Die Menschen sind ausgelöscht.
Berlinska Dróha spielt alleine – die Dziecioukis haben sich nach Katowice abgesetzt – in einem zu einer Mischung aus Bibliothek, Klub und linkem Kulturzentrum ausgebauten ehemaligen jüdischen Bad. Angenehme Leute und angeregte Diskussionen. Die Leute bauen gerade so was wie eine polnische Podemos auf, und auch eine anwesende Anarchistin findet, daß das eine gute Idee ist, auch wenn sie von ihren Genossinnen und Genossen aus der anarchistischen Föderation bestimmt was auf den Deckel kriegt, sagt sie. Der Band merkt man den gestrigen Abend an. Zum Glück kennt das Publikum sie nicht ohne Kater und findet es toll. Danach noch Roberts Film und weitere Diskussionen. Anschließend komplett im Eimer aber nüchtern ins Bett.
Budapest: Ich bin noch nie in Ungarn gewesen. Hab so viel Schlechtes gehört und bin interessiert, was ich davon merke, wenn ich dort bin. Zuerst müssen wir aber auf bergigen Straßen durch die Slowakei fahren. Bei einer historischen Burg mit angeschlossenem Touristädtchen, treffen wir auf die Dziecioukis, die uns erstmal mit Wasserpistolen überfallen. Irgendwann tief in der Nacht kommen wir in Budapest an. Wir schlafen in einem alten, sehr mediteran wirkenden Haus bei der weißrussischen Organisatorin. Die Wohnung ist etwas klein, so dass wir wie Ölsardinen auf dem Fußboden liegen. Am nächsten Tag erkunden wir die Stadt. In den touristischen Vierteln ist es so wie überall. Außer dass wir wirklich kein Wort verstehen, weil es zum Ungarischen keine Brücke gibt. Auch hier wieder ein jüdisches Viertel, in dem aber viel jüdisches Leben zu sehen ist. Vielleicht weil von den Budapester Juden verhältnismäßig viele überlebt haben? Dazwischen das Szimpla. So was wie das RAW-Gelände in Mini. Vor dem Szimpla hängt eine EU-Fahne. Ist das hier so etwas wie ein Symbol gegen die nationalistische und romafeindliche Regierung? Zu viele Fragen und keine Ahnung. Und zu wenig Zeit danach zu suchen, denn wir müssen schon wieder weiter zum Konzert. Das DÜRER KERT ist ein großer kommerzieller Club mit riesigem Garten, in dem wir sitzen und Bier trinken. Das Konzert ist mittelmäßig besucht aber recht stimmungsvoll. Dafür, dass beide Bands zum ersten Mal in Ungarn spielen, eigentlich ganz schick. Danach wieder in die Sardinenbüchsenwohnung. Schade, dass keine Zeit ist, ungarische Linke oder AnarchistInnen zu treffen – ich würde sie gerne einiges fragen.
Wien: Irgendwas ist mit dem Booking schiefgegangen. Jedenfalls gibt es kein Konzert. Wir müssen aber nach Wien um unseren neuen Fahrer abzuholen. Macht nichts. Wir überfallen einfach diese kleine staubige Wagenburg, die im Sommerloch noch staubiger wirkt und Vokü haben soll, treffen 3 kochende Bewohnerinnen und fragen sie, ob sie ein Konzert haben wollen. Ok. Sie schreiben noch eine Massen-sms. Wir plantschen im Pool. Das Konzert wird wider Erwarten eines der besten auf der Tour. Endlich mal draußen bei dem heißen Wetter und mit einem begeisterten Publikum. Am Ende gibt es beinahe noch Ärger wegen zu vieler betrunkener Männer auf einmal, samt ihren betrunkenen Ideen. Zum Glück lässt sich alles klären. Am nächsten Tag heißt es früh aufstehen. Irgendwelche Blood&Honour-Arschgesichter haben sich zur Besichtigung der Akademie der Künste in Wien angekündigt. Wir wollen auch da sein. Vor der Uni sind etwa 50 Antifaleute und bürgerliche Protestierer. Wir stehen rum und fragen uns, ob die Kunstakademie der Geschichte nicht einen Gefallen getan hätte, wenn sie den Herrn Hitler einfach aufgenommen hätte. Vielleicht hätte er sein Leben einfach damit verbracht, hässliche Bilder zu malen? Hätte es dann einen anderen Hitler gegeben? Egal. Irgendwann tauchen ein paar Nazis auf und gehen wieder weg. Wir auch – nach zwei Stunden warten.
Bratislava: Die 60 Kilometer nach Bratislava bringen wir schnell hinter uns. Auf dem Weg noch ein erfrischendes Bad in der Donau nebst Besichtigung der Donau-Auen. Ausgesprochen hübsch und erholsam. In Bratislava spielen wir in einer kleinen Kneipe mit Konzertsaal in staubiger Straße. Sieht vielversprechend aus. Wir essen noch was und geniessen tschechisches Bier. Dann Soundcheck und Warten. Warten auf Gäste. Warum machen wir eine beschissene Klubtour bei 40 Grad? So eine bescheuerte Idee. Dzieciuki machen schließlich vor 5 Leuten den Anfang. Dann Berlinska Dróha. Irgendwie dreht sich die Stimmung. Alle finden’s schön und kaufen anschließend noch jede Menge Tonträger.
Blansko: Blansko liegt bei Brno – zu deutsch Brünn – und ist ein winziges Städtchen. Punkklub im Keller, tschechische Punks, tschechisches Bier, daß es für die Bands unbegrenzt umsonst gibt und ein Mixer der anfangs einen seltsamen Eindruck macht, dann aber einen grandiosen Sound aus der alten Anlage herauszaubert. Am Ende noch zwei lokale Bands, die ganz interessante Sachen machen. Die Musiker der Einen, haben sich als Barbaren verkleidet und seltsame Kostüme angezogen. Ich hätte gern die Texte verstanden.
Ostrava: Ganz anders in Ostrava. Die Bands spielen in einem schickeren Musikklub auf Hut. Viel ist nicht los, aber als Konzert ist das schon akzeptabel. Dumm nur, dass der Hut wieder ausgeleert und davon der Techniker bezahlt wird. Wogegen nichts spricht, aber das ist eigentlich Aufgabe des Klubs. Am Ende bleiben 20 Kronen pro Band – umgerechnet 1 Euro. Wir sind etwas angesäuert und trinken von nun an unsere eigenen Getränke. Bier hätten wir bezahlen müssen, ja sogar der Kaffee, den Berlinska Dróha vor dem Gig tranken, hat Geld gekostet. Das zweite Mal, daß ich etwas tiefer in die Samahonka schaue. Wir singen und lärmen auf dem Hof der Location. Berlinska Dróha beschließt feierlich, nie wieder irgendwo zu spielen, wo es vor dem Konzert keinen Kaffee umsonst gibt.
Am nächsten Morgen legen wir das Geld wieder vor die Tür, hängen noch einen Zettel hin und legen ein zerbrochenes Bierglas daneben. Dann heißt es Abschied nehmen.
Jetzt fahren wir schnell nach Cieszyn, wo wir eine Wohnung von Freunden haben, um einen gemütlichen Offday zu verbringen. Dzieciouki fahren nach Hause.
Lublin: 400 Kilometer östlich. Schon kurz vor der ukrainischen Grenze. Zur Abwechslung nicht KuK sondern der einst von Russland beherrschte Teil Polens. Berlinska Dróha spielt unplugged in einem veganen Bistro vor angenehmen und aufmerksamen Leuten. Wir schlafen in einem neu besetzten Haus in dem es noch kein Wasser gibt und deshalb alles nach Kanalisation stinkt. Hoffentlich können sie sich halten und kennen eine Klemptnerin.
Lviv: Nur 2 Stunden Warten an der Grenze, dafür in sengender Hitze. Als wir die Grenze überquert haben ist es schon Abend. In der nächsten Kleinstadt tauschen wir Geld und fragen, wo wir noch was essen können. Uns wird ein Hotel empfohlen, das als neu gebautes Raumschiff inmitten kaputter ukrainischer Straßen herumsteht. Alles ist sehr nobel. trotzdem ist es für uns billig, weil die Hriwna so gefallen ist. Eine Pensionärin kriegt hier umgerechnet 50 Euro im Monat, ein guter Lohn liegt etwa bei 90 Euro.
In Lviv soll es ein von Anarchisten besetztes Haus geben – da wollen wir hin. Ich bin sehr gespannt und habe auch schon jede Menge Fragen im Kopf: Wie geht ihr damit um, in dieser Hochburg des Ukrainischen Nationalismus‘ zu leben? Was ist eure Haltung zum grassierenden Bandera-Kult in der Westukraine? Was macht der Bürgerkrieg mit der ukrainischen Gesellschaft? …
In Lviv angekommen fahren wir noch eine Weile durch die Gegend, bis wir am zentralen Platz auf drei junge Männer treffen, die uns erstmal ein Stückchen Stadt zeigen wollen, mit uns einen Park aufsuchen wo noch ein paar Kumpels von ihnen herumhängen. Kette rauchend laufen sie in unglaublichem jugendlichen Tempo durch die Stadt. Im Park wird etwas diskutiert. Die Leute haben schwarze Klamotten, einer hat auch einen Pullover mit der Aufschrift „Classwar“ an. Sie diskutieren über Punk, einer singt „Antifa-Hooligans“.
Wieder zurück am Platz bei der Oper quetschen wir uns alle ins Auto und fahren zum „Squat“. Dieses ist um die Ecke vom Bahnhof und etwas ungewohnt. Das „Squat“ hat einen Pförtner, der die Jugendlichen behandelt wie kleine Kinder. Aber wir dürfen unser Auto auf den Hof fahren. Wir gehen ein mit Anarchiezeichen und „Fuck the Police“ vollgesprühtes Treppenhaus eines Fabrikgeländes hoch und dann in die zweite Etage hinein. Nach einem langen Flur kommt ein fürs Kampfsporttraining eingerichteter Raum mit Matten, Boxsäcken und anderem Gerät. Über einer Zwischendecke tront ein großes, längsgestreiftes, schwarzrotes Transparent mit nationalistischen Symbolen. Dann ein zweiter Raum. An der Wand hängen Bullenschilder mit aufgesprühten Anarchiezeichen. Polizeischilder vom Maidan, wie uns ein Jugendlicher stolz erklärt. Ich will erstmal rauchen. Das geht nur im Treppenhaus. Dort treffe ich die andern. Wir schauen uns an. Nein! hier wollen wir nicht schlafen! Wir flüstern kurz, während ein muskulöser und ein paar Jahre älterer Mann den Jugendlichen eine Standpauke auf ukrainisch hält. Sie würden zuviel rauchen, übersetzt uns Pjotrek später. Wir versuchen vorsichtig zu erklären, dass wir doch lieber woanders schlafen möchten. Der eine von den Jugendlichen hat irgendwie mitbekommen, dass wir sie für Rechte halten. Er erklärt uns, dass das nicht der Fall wäre – zumindest nicht jetzt. Früher hätten sie Sieg Heil geschrien, aber das wäre vorbei. Heute wären sie gegen Chauvinismus, russischen und EU-Imperialismus, für Ökologie und gegen die Junta. (Das ist interessant, dass sie die Regierung so bezeichnen wie sie eher im Donbass oder Moskau bezeichnet wird). Der Nationalismus wäre nur Folklore, weil das in der Westukraine nun mal gut ankäme, und außerdem mit dem baskischen oder irischen Befreiungsnationalismus zu vergleichen. Mir kommt das alles vor wie die ukrainische Variante autonomer Nationalisten. Ich möchte hier raus und ich bin zum Glück nicht alleine. Aber wir müssen im Guten raus, denn diese Typen machen Kampfsport und wir sind auf ihrem Terrain. Außerdem haben wir auch noch unser Auto wohlverschlossen hinter ihrem Eisentor und bewacht von ihrem Pförtner geparkt. Zum Glück lassen sie uns gehen. Als wir losfahren, fällt uns ein Sack Steine von den Herzen. Wir suchen uns ein Hostel und gehen schlafen.
Am nächsten Tag schauen wir uns die Stadt an. Berlinska Dróha spielen spontan ein paar Lieder auf der Straße, was gut ankommt. Abends steigen wir in den Nachtzug.
Kiew: Am Bahnhof holt uns eine wunderbare Gastgeberin ab, die uns nach einem kurzen Nickerchen in ihrer Wohnung mit Köstlichkeiten aus dem Garten ihrer Großeltern bewirtet. Anschließend spazieren wir über den Maidan…
Der Regen hatte aufgehört. Nur die Alkis plärrten weiter vor sich hin. Zeit zu gehen. Die S-Bahn war ja gleich um die Ecke. Und ein Bier in der Baiz – keine schlechte Idee. Martina kaufte sich eine Fahrkarte und setzte sich hin. Ihre Gedanken flogen nach Kiew. Dort hatten Berlinska Dróha in einem etwas schickeren Kellerlokal direkt um die Ecke vom Maidan gespielt. Oberirdisch fand gerade die Probe zur Militärparade zum Unabhängigkeitstag statt. Soldaten, Soldaten und noch mehr Soldaten. Und militärische Befehle aus riesigen Lautsprechern. Unten im Keller Mama Anarchija mit Paul und Uta vor 20 Leuten. Komisches Lokal. Aber gutes Essen und auch eine anständige Gage. Im Publikum saß auch ein Anarchist. Ein Echter! Den hatte ein Kumpel von Pjotrek angeschleppt, der einen Schlüssel zum Dach über seiner Wohnung hatte. Dorthin ging es mit Bier und Samahonka im Gepäck nach dem Konzert. Mit einem romantischem Blick über Kiew hoffte Martina nun endlich mehr über die politische Situation in der Ukraine zu erfahren. Der Anarchist sprach etwas Deutsch, wollte aber lieber Pjotreks Kumpel übersetzen lassen. Dieser übersetzte jedoch nicht. Die beiden hatten anscheinend sehr unterschiedliche Ansichten über die politische Situation, und anstatt Übersetzungen entspann sich jedes Mal eine längere Diskussion zwischen den beiden. Auf Russisch.
Also doch direkte Kommunikation auf deutsch. Der Maidan hätte der anarchistischen Bewegung nichts genützt, obwohl die Anarchisten zusammen mit anderen im Chaos auch ein paar gute Sachen hätten machen können. Zum Beispiel die Besetzung des Immigrationsministeriums, wobei auch jede Menge Akten verschwunden wären. Die Bürgerkriegssituation sei sehr schwierig. Immerhin hätten sie einen Raum, in dem sie Dinge wie Messerkampf trainierten, was man als Antifaschist in der Ukraine auch brauche. Dieses „Squat“ in Lviv wäre kein Squat sondern von dubiosen Geldgebern gekauft. Die Leute da wären so was wie die Ukrainischen „Autonomen Nationalisten“. Die Bürgerkriegssitutation mache, dass selbst Teile der alternative Subkultur ihren Patriotismus entdeckt hätten. Das Gespräch ging noch lange.
Am nächsten Tag waren sie nach Lviv gefahren. Dort war das Konzert wieder in einem schicken Keller. Wieder wenig Leute. Aber eine interessante Gesprächspartnerin: Ivana. Die sprach gut deutsch und hatte den Maidan mitorganisiert. Politisch war sie linksliberal. Hier wäre sie eine gute TAZ-Leserin gewesen. Sie war der Meinung, dass es nur wenige Nazis in Lviv gebe und dass der rechte Sektor vom russischen Geheimdienst aufgebaut worden wäre um den Maidan zu diskreditieren. Eine Auffassung, die Martina nicht zum ersten Mal begegnete. Das glaubten irgendwie viele hier. Martina dachte angestreng darüber nach, was sie davon halten sollte. Fragen, Fragen, viel zu wenig Ahnung und zu wenig Zeit…
Die S-Bahn kam, Martina steckte das Notitzbuch in die Tasche und stieg ein.
Dieser eingerahmte Tourbericht ist für den Kopfstand enstanden. Daher heißt die Fotografin auch Martina und nicht Magdalena Siwek, wie im wirklichen Leben und ist auch ansonsten recht fiktiv. Von Magda stammen aber alle hier verwendeten Fotos.
Das Video stammt von Robert Eckstein und Sascha Quade. Robert war auch schon letztes Jahr mit uns in Weißrussland unterwegs und hat einen wunderbaren Film gemacht, der Weißkohlraumschiff heißt und am 18. Oktober zum ersten Mal in einem richtigen Kino gezeigt wird: Im Lichtblick in der Kastanienallee.
Die beiden Audiostücke sind am berliner Stadtrand von Smail mit Bandmaschine und riesigem Mischpult aufgenommen worden.
Ach wie gern wär ich dabei gewesen… Tolles Abenteuer!