Kriegslenz

Goldner erster Maientag
Frühling, Sonne, Vogelschlag
Durch die Tannenwipfel rauscht
Bergwind.Und ein Hase lauscht.
Ferner Kirchenglocken Klang
schwingt verträumt den Wald entlang
Jedes Gras und jedes Kraut
ist vom Frühling übertaut
Frieden atmet berg und Tal…
Aber Friede war einmal
Holder Lenz du bist erkrankt
Gott der Herr hat abgedankt.

Erich Mühsam
1918

Geigerzaehler · Kriegslenz

Ich blicke voll Schrecken auf die Ukraine und versuche mir ein Bild zu machen. Es stellen sich viele Fragen. Was bleibt von unserem Antimilitarismus angesichts eines Angriffskrieges? Wie können wir hierzulande gegen eine drohende Militarisierung der Gesellschaft vorgehen, ohne dabei zu nützlichen Idioten der putinschen Diktatur zu werden? Welche Hoffnung gibt es eigentlich noch auf Emanzipation, Befreiung usw. angesichts brutaler Gewalt?

Während ich in der warmen Stube auf den Bildschirm starrend darüber nachdenke, haben ukrainische Anarchist*innen längst Waffen in die Hand genommen. Viele jedenfalls. Ein sehr konkreter Aufruf zur Unterstützung ist „Operation Solidarity“. Eine interessante Reportage mit zwei sehr unterschiedlichen Versuchen mit der Situation umzugehen.

Bei allen Unsicherheiten gerade diesbezüglich: Es ist wichtig, den Leuten vor Ort zuzuhören, anstatt sie schlicht zu Objekten großer weltpolitischer Reißbrettentwürfe zu machen, die zur Zeit bei einigen Linken gerade recht beliebt zu sein scheinen. Ein paar Texte:

Linke Stimmen aus Russland und der Ukraine – gesammelt von Analyse & Kritik. Der zweite Teil ist wenig erbaulich, weil es viel darum geht, sich auf die Illegalität vorzubereiten bzw damit umzugehen.

„Ohne euch werden wir um unser Überleben kämpfen müssen. Ohne uns werdet ihr einen Schritt näher am Abgrund stehen.“ Brief des Soziologen Volodymyr Artiukh an die Linke im Westen über Fehler, die nicht zum Scheitern führen dürfen.“ Ein Brief an die Linke im Westen.

Ein russischer anarchistischer Aufruf gegen den Krieg auf die Strasse zu gehen vom letzten Wochenende (dass es in Russland trotz der immer offeneren Diktatur eine Antikriegsbewegung gibt, ist eine der wenigen zarten Hoffnungen in dem ganzen Desaster). Einige Informationen zu den Verhafteten nach dem Wochenende. Bemerkenswert ist dieser Anschlag auf ein Rekrutierungsbüro bei Moskau.

Ein anarchistischer britischer Podcast interviewt einen russischen Anarchisten. Interessanter Einblick in die Situation vor Ort.

Ein interessantes Portrait einer jetzt exilierten russischen Journalistin mit Einblicken in die Unterdrückung unabhängiger Medien in Russland.

Ein wütender Rant gegen das „Westsplaining“ einer in London lebenden Anarchistin mit osteuropäischen Hintergrund. In eine ähnliche Richtig zielt ein „Brief an die Linke im Westen“ des ukrainischen Linken Taras Bilous vom 25. Februar. Aktueller ist ein Interview mit ihm in der AK. „Was aus meiner Sicht noch nicht angekommen ist, ist die Einsicht, dass auch die Menschen in den Ländern zwischen dem Westen und Russland eine eigene politische Subjektivität haben und das Recht, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden.“

Ein sehr lesens und beherzigenswerter Text von im Exil lebenden Syrer*innen (die haben Erfahrung mit Diktatoren, Bomben und auch dem Putinregime!).

Was Deutschland betrifft, möchte ich auf die Erklärung des Internationalen Kommitees der FAU hinweisen – ein fürs Erste tragfähiger Versuch einer Positionierung hierzulande. Einen schönem Versuch die Frage „wie jetzt solidarisch sein?“ zu beantworten, gibt es auch in der antimilitaristisch-anarchistischen Zeitschrift Graswurzelrevolution. Die GWR ist darüber hinaus spannend, weil dort viel Expertise zur äußeren wie inneren Militarisierung ist. Zur breiteren geopolitischen Einordnung des Ganzen sei noch dieser Artikel von Tomasz Konicz empfohlen (das ist zwar so ein Vogelperspektivereißbrettblick, aber im Zusammenhang durchaus nützlich). Interessant in dieser Hinsicht auch dieser Artikel von Peter Korig in der Jungle World, der den Putinismus (und andere osteuropäische autoritäre Regimes) in die weltweite Entwicklung (und Krise) des Kapitalismus einzuordnen.

Das alles kann nur ein Anfang sein. Eine antiautoritäre/anarchistische Linke in Westeuropa wird einiges neu sortieren und dabei auch identitäre Gewissheiten hinterfragen müssen. Das kann dauern. So lange können weder die nach Deutschland geflüchteten Menschen, noch die Leute in der Ukraine warten (welchen Weg sie auch nehmen, mit der Situation umzugehen). Sie brauchen jetzt unsere Hilfe.

Unterstützung für Flüchtende:
https://linktr.ee/operation.solidarity

Unterstützung für Antikriegsproteste in Russland:
https://wiki.avtonom.org/en/index.php/Donate

Spenden für anarchistische Selbstverteidigung:
https://abcdd.org/en/donation/

Unterstützung für Deserteur:innen aller Seiten:
https://www.cafe-libertad.de/fahnenflucht-support-desertion

Ein Spendenaufruf der Roten Hilfe Wien: „Genoss*innen in Russland werden weggesperrt, werden verprügelt und mit hohen Geldstrafen belegt. Genoss*innen in der in der Ukraine, bauen Support- und Versorgungsnetzwerke für alle Dagebliebenen auf.“
https://rotehilfe.wien/spendenaufruf-ukraine-russland/

Statt weiter wie ein Kaninchen auf die Schlange zu starren, spiele ich am Sonnabend mal ein Solikonzert in Budyšin/Bautzen. Das ist nicht viel, aber wenigstens was.