Auf der Veranstaltung in Nordhausen zur Gewalt der Vereinigung habe ich neben dem Soundtrack auch noch einen kleinen Text beigesteuert:
Ein Winterabend 2015 in einer Ex-Besetzer:innenkneipe im Berliner Stadtbezirk Friedrichshain. Der Laden hat zu, aber es sitzen drei Leute am Stammtisch, rauchen, trinken und schauen sich die geschlossenen Rollläden von innen an: Kathleen, Maik und ich.
Wir reden über dies und das. Nach dem zweiten Bier fange ich an – keine Ahnung warum – von einer sächsischen Kleinstadt zu erzählen, in der ich als 11-Jähriger die Wende (die sogenannte) erleben darf. Als Kind von Eltern, die zwar recht früh und voller Hoffnung auf einen besseren Sozialismus auf die Demonstrationen gehen, dann dem Anschluss der DDR an den Westen eher skeptisch gegenüberstehen und außerdem zugezogen sind, eine eher unschöne Erfahrung. Die Eltern gelten dann als „Rote“ und „Rote“ sind jetzt Schweine. Aber meine Eltern müssen nicht in die Schule…
Katleen kommt aus Magdeburg und findet als sehr junges Mädchen Anschluss an die Punkszene. Natürlich geht sie auch auf die Feten und lötet sich zu. Wie alle. Niemand hätte sie davon abhalten können. Ein Aspekt der Transformationszeit ist auch, dass wir sehr früh denken, dass wir erwachsen sind. Müssen wir auch, weil die Elterngeneration keinen Plan hat von der neuen Zeit. Also Suche, also Feiern. Die Punks aus Magdeburg feiern in einer Gaststätte nahe der Elbe. Den Faschos gefällt das nicht und Missfallen wird hier nicht verbal, sondern mit Baseballschlägern bekundet. Die Faschos stürmen die Fete. Kathleen versteckt sich in einem Schrank. Sie hört alles. Die Schreie, die umfallenden Möbel, hört wie es klingt, wenn Baseballschläger auf Köpfe treffen. Hört, wie die Faschos Thorsten Lamprecht erschlagen… Die Bullen halten sich unterdessen in sicherer Entfernung. Als alles vorbei ist kontrollieren sie die Punks.
Maik kommt aus Neubrandenburg. Eine Party im Park. Auch er 14, versteckt sich im Gebüsch und muss zusehen, wie seine Freunde krankenhausreif geschlagen werden. Immerhin keine Toten. Ein glücklicher Zufall zwischen den Springerstiefeltritten auf die Köpfe bewusstlos Geschlagener, ein glücklicher Zufall zwischen Angst und Schreien.
…ich erzähle meine Geschichte auch noch weiter obwohl es mir fast peinlich ist. Harmlos scheinen mir die Schläge auf dem Schulhof, eingerahmt von einer Gruppe Jungs, die mich zurückstoßen wenn ich mich wehre. Harmlos auch die Sprüche ich sei eine „Rote Sau“ und ausserdem Schwul (ich muss erstmal meine Eltern fragen, was das bedeutet). Harmlos der Lehrer, der auf meine Bitte um Hilfe antwortet: „Der Stärkere setzt sich durch!“. Harmlos, weil noch keine Baseballschläger im Spiel sind und keine Stahlkappen an den Schuhen. Harmlos, weil wir noch Kinder sind – mehr oder weniger.
Ich habe Glück. Meine Mutter zieht mit einem etwas verstörten Kind nach Berlin Friedrichshain. Dort beendet die Antifa- und Hausbesetzer:innenszene die Baseballschlägerjahre schnell und konsequent mit Teleskopschlagstöcken, auch Telis genannt.
„Die Gewalt kam zu uns und nicht wir zu ihr!“. Beschreibt eine militante Aktivistin viele Jahre später die Gegenwehr im Sammelband “30 Jahre Antifa in Ostdeutschland”. Dass wir ungestört in der Rigaer Strasse herumsitzen und uns Geschichten aus der Hölle erzählen können, ist nicht zuletzt Ergebnis dieser militanten Gegenwehr.
Der Abend geht lang. Am Ende quillt der Aschenbecher, findet aber kaum noch Platz auf dem mit leeren Bierflaschen vollgestellen Stammtisch. Wir fühlen uns verbunden und erzählen, wie wir es selten tun. Wir müssten eigentlich heulen, schreien, wütend sein. Aber wir heulen und schreien nicht, decken unsere Wut und Fassungslosigkeit mit Sarkasmus zu. Wir verstehen uns! Fühlen uns verstanden und das ist alles andere als selbstverständlich. Wir umarmen uns zum Abschied.
Trotz des vielen Biers kann ich nicht einschlafen. Ich habe fast ein schlechtes Gewissen, so glücklich davongekommen zu sein. Ich bekomme Alpträume von den Geschichten aus der Hölle. Ich kenne noch mehr davon. Mit Punkband spiele ich zwei mal auf Gedenkkonzerten für von Faschos ermordete Punks. Über die Jahre komme ich ganz schön rum in den deindustrialisiert blühenden Landschaften, die einmal das „sozialistische Vaterland“ waren auf das ich als Jungpionier eingeschworen wurde. Immer wenn ich damaligen linken oder Punks über die Zeit nach der „Wende“ unterhalte kommen Höllengeschichten. Aber auch die Geschichten, wie Leute der Hölle trotzten, sich gewehrt und trotz allem etwas geschaffen, aufgebaut, erhalten haben. Einen linken Jugendklub, ein besetztes Haus, einen Skatepark, eine Punkband… Aber diese Geschichten werden erzählt von denen, die sie noch erzählen können. Daneben gibt es die, die nicht mehr erzählen. Das sind nicht nur diejenigen, die direkt totgeschlagen wurden. Auch jene, die sich im Vergessenwollen mit Alkohol oder Drogen aller Art aus der Bahn geschossen haben, die nun tot sind oder lebendige Wracks, kann ich nicht vergessen.
Von Sassnitz bis Suhl, von Görlitz bis Wismar – jugendlicher Linker oder Punk zu sein war gefährlich in den 90er Jahren. Das war lokal durchaus unterschiedlich – es gab auch Städte und Stadtteile wo Linke dominierten. Das waren allerdings wenige. Der Mainstream war rechts. Dieser Mainstream begegnet uns jetzt – nach ein paar Jahren mehr oder weniger bürgerlichem Verpuppungsstadium wieder. Da hört diese Analogie jedoch schon wieder auf, denn die Arschlöcher für Deutschland sind kein Schmetterling. Wir müssen sie von der Macht fernhalten. Auf der Strasse und auch sonst. Suchen wir nach geeigneten Wegen!
Auf dem Rückweg nach Berlin hab ich mir ein wenig den Harz angeschaut und konnte angesichts der Kulisse, die fast so dystopisch ist wie die politische Situation, nichts anderes tun als meine Genoss:innen zu bitten, mal mein Händy zu halten. Ich habe mich unterdessen auf einen Baumstumpf gesetzt und den Titelsong meines vorletzten Albums gespielt. Passte zu gut!