Ein später Morgen

[Auf dem 25. Kopfstand ist Anja spät aufgestanden und hat die Gelegenheit genutzt, Musik zu hören, zu lesen zund nachzudenken. Nicht zuletzt über Antifa in Ostdeutschland bzw ostdeuitsche Verhältnisse, was ja im Kopfstand nicht zum ersten Mal passiert ist. ]

Mist! Schon fast wieder dunkel. Kein Küchengeklapper mehr, kein Stimmchen von Carola. Anja schob die Bettdecke weg, setzte Teewasser auf und legte ihren neuesten Flohmarkterwerb auf den Plattenspieler. Warum hatte sie jetzt Wolf Biermann gekauft? Jetzt so schlecht beleumdet von der Konkret bis zur Jungen Welt, von der Jungle World bis zur Graswurzelrevolution. Anja hatte von den Kassetten gehört, die als rauschender Samisdat von Sassnitz bis Bautzen, von Suhl bis Wismar kreisten, noch mal überspielt wurden und noch mehr rauschten. Ihre Erinnerung war ja eher Erzählung der Eltern. Für die war die Biermannausweisung der Moment gewesen, endgültig jede Hoffnung in den „Ersten sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ fahren zu lassen. Anja hatte eine ostdeutsche Wohnzimmeraufnahme in westdeutscher Pressung erworben:

Aus der Platte sprüht Phantasie, heute in den Nebeln der Vergangenheit verschwundene Hoffnung auf einen besseren Sozialismus, aber auch Verzweiflung über den Zustand des Landes, dass Biermann damals, in den 70ern noch für das bessere Deutschland hielt. Kann man es ihm vorwerfen, dass die Verzweiflung des glühenden Kommunisten irgendwann in Antikommunismus umschlug und am Kamin mit der CSU endete? Täte eine heutige Linke nicht besser daran zu fragen, wie das passieren konnte?

Das Teewasser kochte. Anja goss den Tee auf. Biermann währenddessen:

„Wartet nicht auf bessre Zeiten
wartet nicht mit eurem Mut
Gleich dem Tor der Tag für Tag
An des Flusses Ufer wartet
bis die Wasser abgeflossen
die doch ewig fliessen“

Die Plattenspielerarm hob sich mit knackendem Geräusch in die Höhe. Anja drehte die Platte nicht noch einmal um. „Musik mit deutschen Texten ist der Feind der Lesenden“, dachte sie, setzte sich in Martinas Lehnstuhl, stellte eine Tasse dampfenden Tee auf das Tischchen neben sich und nahm noch einmal das Buch zur Hand, dass sie vor ein paar Tagen gekauft und alles andere vergessend in einem Stück durchgelesen hatte. „ALS ICH MIT HITLER SCHNAPSKIRSCHEN Aß.“

Hatte sie auch mit Hitler Schnapskirschen gegessen, damals in ihrer Kindheit in Budyšin, das Hitler sicher lieber Bautzen nennen würde? Nein, sie kannte keinen Hitler, aber sie hatte mit Rene geschaukelt und mit Maik Hopse gespielt. Die waren ganz genauso wie HITLER, nur dass sie oberlausitzer Deutsch sprachen. Auch Hitler war schließlich nur ein Junge namens Oliver gewesen, mit dem man an der Havel herumhängen konnte oder eben Schnapskirschen klauen.
Anja erinnert sich an diesen Abend im Fischladen in der Rigaer Straße. Keine Ahnung warum sie Montags dahingekommen war, wo der Fischladen doch gar nicht offen hatte. Trotzdem saßen da Micha und Kerstin und luden sie ein. Micha kam aus Magdeburg und konnte sehr genau beschreiben, wie es klingt, wenn Baseballkeulen auf Köpfe krachen. Er war 14 gewesen, als die Nazis die Party überfallen hatten, hatte sich im Schrank versteckt. Er hatte alles mithören müssen und schliesslich, als die Nazis nach getaner Arbeit die Party verließen, hatte er versucht die blutüberströmten Freunde zu verartzten. Einer war dann im Krankenhaus gestorben. Kerstin erzählte ganz ähnliche Geschichten aus Neubrandenburg und Anja schämte sich fast, dass sie nur auf dem Schulhof verprügelt worden war. Wegen ihren Eltern, die „Rote Säue“ wären, obwohl sie doch gestern noch das kleinstädtische NEUE FORUM mitgegründet hatten. Es war überall die selbe Scheiße gewesen und da war es schön, das mal in einem Buch zu lesen.

Eine Beispielgeschichte, die denen, die die 90er in Ostdeutschland als Linke, Punks, irgendwie Nichtrechte erlebt hatte, noch einmal Anlass bietet, in die Hölle ihrer eigenen Biographie zu schauen und – im besten Fall – dabei Kraft zu schöpfen um stark zu sein gegen die Hölle von jetzt. Denn die HITLERS von damals sind die BACHMANNS von heute und ihr Anhang, der rechte Mainstream der Jugendkultur der 90er, wählt heute AfD. Das Buch von Manja Präkels, die manche bereits von ihrer Band „Der Singende Tresen“ kennen, ist aber mehr als eine Wiederkehr der Gespenster der Wendezeit. Darüber hinaus erzählt es mit tiefgründiger Naivität vom Alltag einer Gesellschaft, deren Zeit abgelaufen war, die das aber noch nicht begriffen hatte, von unverdauter Geschichte und unerfüllten Illusionen, von feindlicher Übernahme und sozialen Katastrophen beiderseis des Herbstes 89.

Schönes Buch, dachte Anja. Lese ich noch mal.

Da lag noch ein anderes Buch auf dem Tisch. „30 JAHRE ANTIFA IN OSTDEUTSCHLAND“. Das hatte Anja mit viel Interesse aber weniger Genuss gelesen. Anja hatte sich mehr Bewegungsgeschichte, mehr Ansätze fürs Hier und Jetzt versprochen und etwas weniger Soziologenslang.

Ärgerlich, dass sich Teile des Buches lesen wie Abschlussarbeiten für die Uni. Schade, dass es schwer werden wird, das Buch an Leute weiterzugeben, die sich nicht ohnehin schon für das Thema interessieren. Kennt man die Geschichte in Ansätzen, ist das Buch interessant und führt durch die Entwicklung der schon in den späten 80er Jahren aus dem oppositionellen Milieu entstandenen ersten Antifagruppen, die dann im Umfeld der besetzten Häuser und dem Zwang zur Selbstverteidigung mehr und größer wurden. Auch die kulturelle Fremdheit und die damit einhergehenden Zerwürfnisse zwischen Ost und West – Antifagruppen lassen sich mit Hilfe des Buches noch einmal rekapitulieren. Und es gibt interessante Erklärungsansätze für die Frage, warum sich gerade die Antifaszene vieler ostdeutscher Städte zu einer Hochburg der Antideutschen entwickelte.
Alles in Allem ein wichtiges Buch, auch wenn es schöner gewesen wäre, wenn einige der AutorInnen populärer geschrieben hätten.

Es war schon dunkel geworden. Scheiß Herbst! Anja legte ihren zweiten Flohmarkterwerb auf den Plattenspieler.