„Deutsche Gewerkschaften auflösen“

Anja aus dem Kopfstand denkt nach:

„Deutsche Gewerkschaften auflösen“, twitterte irgendein Typ, der sich selbst als linksradikal bezeichnete. Anja fiel vor Schreck fast ihr Rechner, den sie auf ihren angewinkelten, auf dem Kinderstuhl gegenüber liegenden Beinen geparkt hatte, auf den Boden. Dann hackte sie wütend etwas von der-dumme-Milchbubi-soll-erstmal-ein-Geschichtsbuch-lesen-denn-da-würde-er-erfahren-wann-in-Deutschland-zum-letzten-Mal-Gewerkschaften…. und so weiter in die Tasten.
Zufrieden lehnte Anja sich zurück und wartete auf Likes – Bestätigung für sich selbst, aber auch Bestätigung ihrer Hoffnung, dass die Linksradikalen noch nicht komplett hirnamputiert sind. Es leikte aber niemand. Waren die jetzt wirklich so bescheuert, wegen einer tatsächlich grauenvollen IG BCE – Demo am Hambacher Forst so einen ahistorischen Unfug gut zu finden?
Anja wäre gern dorthin gefahren. Natürlich nicht zu dieser IG BCE/RWE – Demo sondern zu den Klimaaktivisten. Natürlich zusammen mit der ganzen „Bürgerinitiative für die Wiederbewaldung des Grunewalds“. Es wäre überhaupt schön mal wieder was mit ihren Mitstreitern zu machen, anstatt als ausgebrannte Kampagnenmanagerin nur Job und Kinderbetreuung vor sich hin zu managen.
Immerhin hatte sie es zu #Unteilbar geschafft. Das war schon was gewesen. 242000 Leute auf den Straßen. Zwar demonstrierten sie für unterschiedliche Sachen – die Einen für irgendeinen irgendwie mehr oder weniger liberalen Status quo, die Anderen für den Kommunismus und die Anarchie und auch das wiederum in jeweils unterschiedlichsten Facetten und allem Dazwischen, das überhaupt vorstellbar war. Eine riesige unüberschaubare Menge, die immerhin Eines vereinte: Die Angst vor weiterem Rechtsruck und aufkommenden Faschismus. Anja machte das Hoffnung. Um so mehr, als auf der Abschlusskundgebung gerade den angemessen radikalen und kapitalismuskritischen Reden besonders laut applaudiert wurde oder als streikende Flugbegleiter und Flüchtlinge gemeinsam auf der Bühne standen. Da war das Motto regelrecht mit den Händen zu greifen. Da hatten die Organisatorinnen alles richtig gemacht, fand Anja.
Um so seltsamer war es, tags drauf, einige Kommentare auf Twitter zu lesen. Da zeichneten manche antideutsche Spezialisten, die an anderer Stelle auch öfter mal Sinnvolles schrieben, ein Bild der Demo als antisemitischen Mob. Bei welcher Demo waren die denn? fragte sich Anja. Sie hatte ein paar Splittergruppen mit komischen Transparenten gesehen, aber das fiel angesichts der Menschenmassen kaum ins Gewicht. Stattdessen auf der Hauptbühne eine deutliche Abgrenzung von antisemitischem Wahn.
Anderen war alles nicht radikal genug. Das konnte sie schon verstehen. Aber was nutzte eine Radikalität die hohldrehte wie ein Zahnrad ohne Gegenstück? Die nur noch Selbstbestätigung und Abgrenzung von denen war, die man als „die Anderen“ empfand? Was sollten die paar besonders konsequenten Linksradikalen machen, wenn sich nicht eine relevante Anzahl von Leuten nach links politisieren würde? Auf den Rücken liegend schlaue Texte zu schreiben und darauf zu warten, daß Björn Höcke Reichskanzler wird? Sich heroisch einknasten zu lassen?
Tatsächlich war es auch für Anja eine Überwindung gewesen, neben Jungliberalen in einer Demo zu gehen, ohne ihnen aufs Maul zu hauen. Aber denen konnten die Redebeiträge auch nicht gefallen haben. Insofern alles gut. Vielleicht könnten ja sogar die noch was lernen und ihre scheiß Partei auflösen.
Apropos auflösen. „Deutsche Gewerkschaften auflösen“. Dir hat Margeret Thatcher wohl ins Hirn geschissen!, dache Anja und wurde wieder sauer. Der wollte Linksradikaler sein? Es war ein verlorener Kohlenarbeiterstreik, der den Siegeszug des Neoliberalismus in Europa einleitete und es waren Minenarbeiter gewesen, die sich ihm zuerst widersetzten.Dass die Bewegung gegen Abbaggerung und Klimawandel richtig war, unbenommen. Aber was waren das für Leute ohne jede Emphatie für die BergarbeiterInnen? Linke? Linksradikale? AnarchistInnen?

Anja ging zum Plattenregal. Gundermann wäre jetzt das richtige…

Anja war nicht wegen diesen ganzen Neue Soziale Bewegungsthemen links geworden. Sie war links geworden, weil sie – beeinflusst von ihren Eltern – den schnellen Anschluss der DDR und den anschließenden Ausverkauf des Volkseigentums scheiße fand. Schon bald jedoch änderten sich die Koordinaten und in der ostdeutschen Jugendkultur enschied die Frage „Bist du für oder gegen Ausländer?“ über die politische Verortung. Natürlich war Anja „für Ausländer“, zugleich fand sie die Frage überhaupt falsch. Selbstverständlich hatten alle Menschen – ob „Ausländer“ oder nicht ein Recht auf ein Leben in Würde. Demgegenüber stand ein Wirtschaftssystem, das auf Bereicherung Weniger ausgelegt war. Anja organisierte sich in linken Gruppen um den Kapitalismus zu bekämpfen, wozu aber keine dieser Gruppen jemals kam, weil sie sich ihrer Haut erwehren mussten gegen eine gewalttätige Neonaziszene. Und fand sich jetzt zwischen selbsterklärten Linksradikalen wieder, die sich für soziale Kämpfe überhaupt nicht interessierten.
Aber zurück zu diesen Bergarbeitern. Das kannte Anja ja aus der Niederlausitz, wo sie Freunde hatte. Die hatten jetzt noch Arbeit in einem Rahmen, der einmal Normalität gewesen war. Also Arbeit, von deren Lohn man sich auch sein Häuschen bauen und etwas sparen konnte. Und es lag doch auf der Hand, was für Jobs sie kriegen würden, wenn der Tagebau stoppen würde. Der übliche prekäre Mist, wenn überhaupt. Insofern war es ein Leichtes für RWE und die Kohlelobby, das legitime Interesse dieser Arbeiterinnen zu funktionalisieren, zumal keine Linke und schon gar nicht die Ökohippies etwas zu dem Thema zu sagen hatten. Dabei wäre es ja vielleicht gar nicht so schwer – ganz harmlos und reformistisch – gleichwertige sichere Arbeitsplätze für die Bergarbeiter in den Forderungskatalog aufzunehmen. Oder eben RWE sozialisieren – das wäre doch mal was, ginge aber nur mit den ArbeiterInnen.!
Vielleicht sollte sie aber auch nicht mehr auch einfach nicht mehr soviel Twitter lesen. Das twitterten ja auch einige vernünftige Leute. Und wenn sie schon twitterte, dann sollte nicht solche Vollhonks ernstnehmen. Die waren ja sowieso irrelevant.
Vielleicht sollte sie endlich selbst zum Hambacher Forst fahren, sich einer Mieterinitiative anschließen, Oder die Liebig 34, die Potse, das Syndikat, die Meuterei und alle anderen verteidigen. Oder die FAU bei ihren Arbeitskämpfen unterstützen, die Nazis nicht am 9. November demonstrieren lassen… Es gab doch so viel zu tun in der realen Welt da draußen. Aber wann sollte sie das alles machen? Morgen vielleicht?

Anja schlief im Sitzen ein, wachte eine Stunde später mit Rückenschmerzen wieder auf, wankte ins Bett und konnte nicht mehr schlafen. Verdammt! Zu viel zu tun!

Update: Einen ganz guten Rundumschlag zum Thema Klimachutz und Klassenkampf gibt es mittlerweile im Lower Class Magazine.