Zurück nach Utopia

Am 4. November 89 saß ein elfjähriger Junge auf einem Baum am Alexanderplatz. Um den Baum herum Menschen. Viele Menschen. Unüberschaubar. Weit hinten im Menschenmeer ein LKW mit Mikrofon. Da sagten viele Leute wichtige Dinge. Das kam unterschiedlich gut an. Das Klatschen und Buhschreien einer 500000-köpfigen Menge hat eine gewisse Eigendynamik. Ein alter Mann blieb in Erinnerung. Der sagte was von einem „Sozialismus, der des Namens wert ist.“¹ Die Menge klatschte. Hoffnung überall, auf Transparenten und Gesichtern.

Das Fenster war auf, der Mief entwich, doch der Zeitstrahl war zerbrochen. Das utopische Versprechen einer besseren Gesellschaft – Motivation von Sozialist*innen aller Strömungen, die selbst im realexistierenden Poststalinismus nicht ganz verschwunden war, wendete sich und ging einfach zurück. Am 3. Oktober 1990 ein letztes Aufbäumen einer Utopie. Und das an drei Orten gleichzeitig – am Kollwitzplatz in Berlin Prenzlauer Berg, in der Dresdner Neustadt und in der Neubaustadt Hoyerswerda/Wojerecy. Letzteres sollte kurz darauf Symbol des ostdeutschen Dystopia werden, Symbol der Baseballschlägerjahre, Pogromstadt und Rückbaugebiet. Auch am 3. Oktober war Dystopia nicht fern. Davon kündeten die mörderischen Angriffe auf Vertragsarbeiter*innen, Linke und überhaupt alle, die nicht ins nationalistische Bild zu passen schienen quer durch die Republik.² Während am Kollwitzplatz die Protagonist*innen der Autonomen Republik Utopia ein letztes Mal auf Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung anstießen, wurde das alles anderswo im nationalen Taumel längst zertrampelt.
Statt Freiheit und Glück für alle Menschen kam der realexistierende Kapitalismus des Westens, der sofort seine Versprechen brach. Statt blühender Landschaft die Treuhand. Statt Freiheit und Wohlstand – Ausgeliefertsein. So hatten sich das nicht einmal Wähler*innen der „Allianz für Deutschland“ vorgestellt.

32 Jahre später sind schon ein paar Bäume gefällt worden zwecks Verarbeitung der Hoffnungslosigkeit und ich frage mich verzweifelt was zu tun ist. Es ist ja nicht besser geworden in diesem Osten (nicht nur hier!) und das hat viel damit zu tun, dass jegliche Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft zu Staub zerfallen ist. Dass es nur konsequent ist, alleine klarzukommen, am besten vor den andern und gegen die mögliche Konkurrenz. Wo sich nicht einmal die Linken einen „Sozialismus, der des Namens wert ist“ überhaupt vorstellen können? Wo soll sie herkommen, die Hoffnung, die Motivation? Und – wer soll diese Linken ernst nehmen, die sich in ihrer Hoffnungslosigkeit selbst nicht ernstnehmen, bei denen die große Geste der Revolte zum pubertärem Spiel gerinnt, das mit dem Uniabschluss vorbei ist?

Nun ist schon fast Jahresende – bekanntlich Zeit für gute Vorsätze. Warum auch nicht? Was ich mir wünschen würde? Utopisches Selbstvertrauen, das nicht in Wolkenkuckucksheimen landet sondern sich in sozialen Kämpfen auf die Füße stellt. Und da passiert ja etwas! Mieter*innen, die dem Irrsin Vergesellschaftung entgegensetzen und nicht mehr zu überhören sind. Rider, die gegen die algorithmengesteuerte Ausbeutung ganz neue Formen der Selbstorganisation erfinden und etwas getan haben, das „in Deutschland, wo bisher sämtliche Revolutionen danebengegangen, und wo die Leute immer gekuscht haben“¹ lange nicht passiert ist: Wild streiken!

In diesem Sinne: Schönes Neues!


https://geigerzaehler.info/2021/10/23/
der-zeitstrahl-ist-zerbrochen/

1) Rede von Stefan Heym (Schriftsteller, als Linker
jüdischer Herkunft 1933 ins Exil getrieben, mit der
amerikanischen Armee nach Deutschland zurückge-
kommen, von McCarthy in die DDR vertrieben, im
Osten ein Symbol des unbotmäßiger Gedanken)
https://www.dhm.de/archiv/
ausstellungen/4november1989/heym.html

2) Faschoangriffe am 2. und 3. Oktober 1990:
https://zweiteroktober90.de

Ein Text für den Transmitter