Räumung im Herbst

Es nieselt so herbstlich. Ich sollte mich freuen für die halbtoten Bäume am Straßenrand, sage ich mir, doch es gelingt nicht. Die zweite Coronawelle nimmt langsam Gestalt an. Soll ich mich auf dunkle Tage im Lockdown freuen? Auf die physische Isolation?

In diesen Herbst nebst Coronawelle hinein werden am Freitag die Bewohner*innen Liebig 34 geräumt werden, dem Corona-Räumungsmoratorium zum trotz. Mehrere tausend Bullen werden aus dem ganzen Bundesgebiet herangekarrt, Kletterspezialisten und SEK. Sie werden ein paar Straßenzüge absperren und dann gehts los. Sie werden – wenn kein Wunder geschieht – ihr zerstörerisches Werk verrichten und ein Hausprojekt aus der Welt räumen, das in seiner Einzigartigkeit schon seit 30 Jahren im Kiez existiert. Wir werden sie behindern so gut es geht, werden den politischen und konkreten Preis der Räumung hochtreiben. Ein wenig haben wir das schon geschafft. Von dem Kostenaufwand für die Räumung könnten wahrscheinlich mehrere Ersatzobjekte für die Liebig 34 geschaffen werden. Aber das Privateigentum ist heilig im Kapitalismus und diese Räumung ist auch eine Machtdemonstration an alle, die sich etwas Besseres auch nur vorstellen.

Da sind noch die Strohhalme, dass die politischen Kosten zu hoch sind und doch noch eine politische Lösung verhandelt wird. Oder dass sich die rechtlichen Zweifel an der Räumung verstärken. Strohalme, zu dünn und flüchtig. Aber an was sonst klammern?

Das alles ist nicht neu. Wir hatten die ganze Scheiße schon im Kiez und zwar mehrfach. Als die westdeutsche Staatsmacht in der Mainzer Straße zeigte, wer der neue Herr im Hause ist und dabei nicht zuletzt auch Vertreter*innen der DDR-Opposition, die sich für eine Verhandlungslösung einsetzten mit dem Wasserwerfer wegspritzte, war ich zu jung. Die Räumungswelle Mitte bis Ende der 90er, der in Friedrichshain das besetzte Haus in Altstrahlau, die Palisadenstraße, die Niederbarnim, die Kreutziger 21, die Rigaer 80 und die Scharnweber 28 zum Opfer fielen, habe ich als Jugendlicher erlebt und bekämpft. General Schönbohm, der direkt vom Militär zum Innensenat gewechselt war und gern auch immer wieder Artikel in der „Jungen Freiheit“ schrieb, ist mir in denkbar schlechter Erinnerung. Möge er in der Hölle schmoren (falls es das gibt, was ich für eher unwahrscheinlich halte)!
Es folgten Brände in der Rigaer 84 und die Räumung der Liebig 14 vor knapp 10 Jahren. Die Liebig 14 war ein eigentlich recht unspektakuläres Projekt mit sehr heterogener Bewohner*inneschaft. Sie wurde am Anfang der Anti-Räumungskampagne auch gern mit der gegenüberliegenden Liebig 34 verwechselt, die einfach auffälliger war und eine bekannte Kollektivkneipe ihr Eigen nennen konnte – das XB-Liebig. Dennoch wurde die Liebig 14 zum Symbol und das Räumungszenario von damals scheint mir dem der Liebig 34 ziemlich ähnlich zu sein. Auch bei der Liebig 14 gab es im Vorfeld ein mediales Sturmreifschießen seitens der Boulevardpresse, zum Teil auch von Tagesspiegel und Morgenpost. Allerdings gab es auch Gegenwind, manchmal in großen Medien. Als die Liebig 14 geräumt wurde, war Rot/Rot am Ruder. Grün fehlte noch. Die Räumung hat dann der Linkspartei massiv bei den darauffolgenden Wahlen geschadet (neben anderem, z.B. der Sparpolitik, dem Verkauf städtischer Wohnungen etc. Für all das hätte man auch gleich die CDU wählen können). Für die Räumung wurden etwa 2500 Bullen eingesetzt, die dennoch bis um 12 brauchten, bis sie das Haus vollständig unter Kontrolle hatten, nicht zuletzt wegen ein paar mit farbigen Flüssigkeiten gefüllten Wannen, die Panik auslösten. Die Flüssigkeit stellte sich am Ende als gefärbtes Wasser heraus. Stadtpolitisch hat hat die Liebig 14 – Räumung eine ziemliche Schneise gezogen. Ich denke auch, dass sich der Widerstand gelohnt hat – nicht in erster Linie für die Liebig 14 selbst, aber zum Beispiel für den etwa 1 Jahr später bedrohten Schokoladen in Mitte, bei dem sich dann die Politik beim Finden einer Verhandlungslösung sehr viel mehr Mühe gegeben hat. Den Schokoladen gibt es immer noch.

Es ist Herbst. Es nieselt. Wartend auf Räumung und Coronawelle könnte ich erstarren und versinken. Doch dazu ist jetzt keine Zeit. Es ist Zeit, auf die Straße zu gehen und zu machen was geht. Und etwas wird gehen, denn auch die Gegenseite kocht nur mit Wasser. Also los! Wir sehen uns auf den Barrikaden!